Robert Baden-Powell
Robert Baden-Powell war ein Mann mit grauen Haaren, gütigen Augen und den markanten, straffen Gesichtszügen des Berufsoffiziers alter Schule. Steht’s wirkte er jünger als er war. Auch vor seinem Tode im Jahre 1941 soll er noch beweglich und munter, sportlich und geistig rege gewesen sein. Er starb im Alter von 84 Jahren.
Am 22. Februar 1857 war er in London als 12. von 14 Kindern des anglikanischen Pfarrers Baden-Powell zur Welt gekommen. Er erhielt die Vornamen Robert Stephenson Smyth. – Der Name Smyth sollte an einen berühmten Vorfahren mütterlicherseits aus dem 17.Jh. erinnern, an dem legendären Seehelden und Abenteurer John Smyth, Captain ihrer Majestät der Königin von England.
Der Vater starb, als BP drei Jahre alt war.
Von der Mutter erzogen, entwickelte er früh ein Gefühl für Ritterlichkeit und Verantwortungsbewusstsein. Später fühlte er sich sehr zu seinem Großvater mütterlicherseits, Admiral W. Smith, hingezogen, einem Kartographen und Astronomen, der in dem Jungen die Lust am Abenteuer und an der Naturbeobachtung weckte. Während der Internatszeit in dem renommierten College von Charterhouse nutzte er jede freie Minute, um einen verwilderten Park zu durchstreifen, Spuren der Tiere zu suchen und sich die „Wissenschaft des Waldes“ anzueignen, wie er es nannte.
Dererlei Kenntnisse kamen ihm zugute, als er mit Freunden während der Ferien ausgedehnte Reisen unternahm, zu Fuß oder in einem Boot auf der Themse, ja sogar übers Meer bis nach Norwegen. Die Jungen campierten im Freien, orientierten sich nach der Sonne und den Sternen, ernährten sich von selbstgefangenen Tieren, die sie am Lagerfeuer grillten – und kehrten stets pünktlich, gesund und aufgeladen mit Selbstbewusstsein zum Beginn des nächsten Schuljahres zurück. Damals schon lernte Baden-Powell durch eigene Erfahrung, dass der Sport des Waldläufertums weit mehr war als Indianerspielerei: Eine hervorragende Schulung des Charakters und der Persönlichkeit junger Menschen.
Mit einem mehr als mittelmäßigen Abschlusszeugnis des Charterhouse Colleges sollte er, der Familientradition entsprechend, an der berühmten Universität in Oxford studieren, doch er bewarb sich um einen Ausbildungsplatz als Offizier der britischen Armee und legte das Aufnahmeexamen mit Glanz ab – als Zweiter von 717 Prüflingen! Daraufhin wurde er sofort zum Unterleutnant befördert. Außerdem durfte er sich die Waffengattung, in der er dem Königreich dienen sollte, selbst aussuchen. Als guter und begeisterter Reiter entschied er sich für die Kavallerie, eine als snobistisch verrufene Truppe, der meist die Söhne vermögender aristokratischer Familien angehörten. Robert Baden-Powell war einer der wenigen von Ihnen, die keinen aristokratischen Namen trugen (Zum Lord geadelt wurde er erst 1929) und die auch nicht von zu Hause mit Familiengeldern großzügig unterstützt werden konnten. Er war auf seinen Sold angewiesen. Und das war wenig.
Als er mit dem 13. Husarenregiment in Indien eingesetzt wurde, fiel er dadurch auf, dass er nicht wie die anderen Offiziere sinnlos Geld verschwendete, sondern sich sogar seinen mageren Soldatensold aufbesserte, indem er Artikel für Zeitungen und Illustrierte schrieb. Wenn seine von Langeweile geplagten Kameraden aus vermögenden Familien in Bars saßen, Whisky tranken, Zeitschriften lasen und rauchten, vergnügte er sich in der freien Natur. „Am liebsten“, schrieb sein Freund E. E. Reynolds, „schlich er sich in den Dschungel. Dort lag er regungslos und beobachtete die wilden Tiere, wie sie zur Tränke zogen – den Hirsch, den Schakal, den Eber und den Bären.“ Bei seinen Kameraden war er sehr beliebt. Vor allen Dingen zeigte sich seine Begabung, die gelangweilten Militärs zu unterhalten: Er sang im Offizierskasino, arrangierte kleinere Theateraufführungen, schrieb die Stücke und die Lieder selbst und brachte Leben in die Bude, dadurch wurde er weithin bekannt. Überall erzählte man sich von den vielfältigen Begabungen des jungen Offiziers, der allgemein mit den Initialen seines Namens B.P. (engl. ausgesprochen: BiPi) genannt wurde.
Seine Talente kamen auch den Vorgesetzten zu Ohren. Sie waren von Baden-Powell begeistert: Ein Mann, der es einerseits Verstand andere Soldaten bei Laune zu halten und von Langeweile zu befreien – der andererseits die Wildnis wie seine Hosentasche kannte und die Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln imstande war, bot sich für besondere Führungsaufgaben geradezu an. Die Armeeleitung übertrug ihm daher die Ausbildung der Scouts, der Pfadfinder, die nicht im offenen Kampf eingesetzt wurden, sondern das gegnerische Lager auskundschaften mussten, mit List und Lautlosigkeit nach Art nordamerikanischer Indianer und Trapper. Bei der Ausbildung dieser Scouts hielt sich Baden-Powell an keine strikten Methoden, er legte kein Wert auf Drill, sondern versuchte seine Schützlinge für ihre Aufgabe zu begeistern, indem er ihnen Sinn und Zweck ihrer Tätigkeit erklärte oder ihnen spielerisch beibrachte was sie wissen mussten. Baden-Powell gab keine strikten Anordnungen sondern nur Tipps und Anregungen, die seine Leute befähigten, an der Lösung eines Problems mitzuarbeiten, selbständig zu denken und in eigener Verantwortlichkeit zu handeln. Er hielt keine langen Vorträge über eigene Erfahrungen, er steuerte seine Schützlinge so, dass sie aus eigenen Erfahrungen lernten „Learning by doing“ nannte er dieses System: „Lernen durch tun“.
Bei kriegerischen Einsätzen organisierte er seine Kundschafter zu Patrouillieren von etwa fünf Mann, angeführt von einem besonders bewährten und vorbildlichen Soldaten. Dieser Patrouillenführer bekam einen bestimmten Auftrag und hatte bei der Ausführung freie Hand. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft war den von ihm ausgebildeten Soldaten so selbstverständlich geworden, dass sie sich im Ernstfall, bei größter Gefahr, bedingungslos auf einander Verlassen konnten.
Vor allen Dingen aber machte Baden-Powell seinen Schützlingen alles selbst vor, ohne Strapazen oder Gefahren zu scheuen. Als beispielsweise die Männer einer Patrouille von einem Kundschafterunternehmen erfolglos zurückkehrten, mit der Begründung, es sei unmöglich, nachts die Enge Postenkette des aufmerksamen Gegners unbeobachtet zu durchschleichen – da versuchte es Baden-Powell selbst. Er schlängelte sich nachts im Gras zwischen feindlichen Wachposten durch, drang weit ins Gebiet des Gegners ein, kundschaftete wichtige Einzelheiten aus und kehrte ungeschoren zurück. Zum Beweis, dass er tatsächlich im Lager des Feindes gewesen war, hatte er dort seinen Handschuh in einem Gebüsch verborgen. Als der Gebiet später erobert wurde, lag der Handschuh immer noch an der selben Stelle.
Baden-Powell – überzeugte und führte -, indem er ein Vorbild gab. Wir erkennen hier schon die Grundprinzipien des später gegründeten Pfadfindersystems. Allerdings: die Methode, die Baden-Powell damals in Indien als junger Offizier, als Ausbilder und Anführer der Scouts erdachte und in die Praxis umsetzte, war für Erwachsene vorgesehen, für Soldaten, zum Zweck einer siegreichen Kriegsführung. Insofern standen seine damaligen Bestrebungen freilich im krassen Gegensatz zu der späteren Pfadfinderbewegung, die nach seinem Willen ausdrücklich dem Frieden dienen sollte. Erst durch andere Erlebnisse fühlte sich Baden-Powell plötzlich berufen, seine Erfahrungen als Offizier und seine Ausbildungsmethoden für Soldaten im Interesse der Jugenderziehung völlig neu zu überdenken. Und das kam so:
Nachdem B.P. in Indien, Afghanistan und Malta eingesetzt worden war, erhielt er 1897 – inzwischen zum Hauptmann befördert – den Auftrag, in Südafrika eine Expedition als Vergeltungsschlag gegen den Ashanti-Häuptling Pempreh zu unternehmen. Pempreh war ein Urwaldfürst grausamster Prägung, der nicht nur gegen die englische Kolonialherrschaft rebellierte, sondern auch Mitglieder seines eigenen Volkes als Sklaven verkaufte oder als Menschenopfer bei rituellen Handlungen hinschlachten ließ.
Dort, auf der Fährte des flüchtenden Pempreh, lernte Baden-Powell von befreundeten Eingeborenen ihre besonderen, selbst ihm noch unbekannten Methoden der Jagd, des Spurenlesens, der Orientierung, der Urwaldmedizin und ähnliche Waldläuferkünste. Dabei vervollkommnete er seine eigenen Erfahrungen, und bald war er im Dschungel geschickter als seine eingeborenen Lehrmeister, die ihm den Ehrenvollen Namen „Impeesa“ geben: „Der Wolf der nie schläft.“ Während er tagsüber den Blutrünstigen Häuptling jagte, schrieb er nachts am Lagerfeuer sein Buch „Aids for Scouting“ (wörtl.: „Hilfen zum Pfadfinden“), indem er kurz und bündig zusammenfasste, was er in Indien und Afrika an Waldläufergeheimnissen gelernt hatte. Als das Manuskript 1897 fertig war, gelang es Baden-Powell endlich den Ashandi-Häuptling Pempreh gefangen zu nehmen, doch er ließ ihn nicht hinrichten, Blutvergießen war Baden-Powell ein Gräuel. Der Häuptling zog ins Exil – und wurde ein Freund und Verehrer des Mannes der ihn überwunden hatte. Als Baden-Powell später seine Pfadfinderbewegung für jugendliche gründete, war Pempreh einer der ersten afrikanischen Pfadfinderführer! Doch ich greife weit voraus. Noch dachte Baden-Powell nicht an eine Pfadfinderbewegung. Noch schreiben wir das Jahr 1896. Baden-Powell, inzwischen zum Oberst befördert kam im Anschluss an sein afrikanisches Abenteuer nach Indien, wo er das Kommando über eine Kavalleriedivision übernahm. Von dort sandte er das Manuskript seines Buches „Aids for Scouting“ nach England zu einem Verleger. Als es 1899 erschien, ein dünnes Bändchen, empfahl es der englische Generalstab als allgemeine Ausbildungslektüre für Offiziere.
Im selben Jahr brach der Burenkrieg aus.
Buren – der Name kommt aus dem Niederländischen und bedeutet „Bauern“- sind die Nachkommen der Holländer, Niederdeutschen und Hugenotten, die in Südafrika den Oranjefreistaat, Natal und Transvaal gründeten. Dort gerieten sie mit den Engländern, die gewisse Gebiete Südafrikas kolonisieren wollten, in einen Interessenkonflikt. Es kam zum Krieg. Baden-Powell wurde unverzüglich, im Juli 1899, von Indien abkommandiert und im Burenkrieg eingesetzt, damit er dort, in Afrika, seine bei der Verfolgung Pempreh gewonnen Erfahrungen von Land und Leuten, Tieren und Wildnis einsetzte. Er bekam den Auftrag, in Mafeking, einer kleinen Frontstadt, britische Soldaten für den Dschungelkampf auszubilden. Doch die Buren erfuhren bald, dass der inzwischen schon bekannte und berühmt gewordene Afrika-Experte Oberst Baden-Powell in Mafeking war, und am 11. Oktober umzingelte der Burengeneral Cronje mit 9000 Mann die Stadt um ihn gefangenzunehmen. Der „Wolf, der nie schläft“ saß in der Falle. Er schien verloren. Die Übermacht der Angreifer war rund zehnfach. Innerhalb der Stadtmauern von Mafeking befanden sich außer Frauen, Kindern und Jugendlichen nur 700 ausgebildete Soldaten und etwa 300 Zivilisten, meist ältere Männer, die mit Gewehren einigermaßen umgehen konnten und nur bedingt einsatzfähig waren. Baden-Powell war trotz allem entschlossen die Stadt zu verteidigen. Als ein Offizier der Buren mit weißer Fahne in die Stadt ritt und die Besatzung zur Übergabe aufforderte, zog Oberst Baden-Powell gelangweilt die Augenbrauen hoch. „Warum?“ fragt er nur.
Der Offizier stutzte über die einsilbige Antwort und zog wieder ab. General Cronje schüttelte über das Selbstbewusstsein des Stadtkommandanten den Kopf. Er glaubte, dass Baden-Powell keine Chance habe. Für Cronje war die Eroberung von Mafeking nur noch eine Frage von Tagen. Doch er hatte sich geirrt. Baden-Powell verteidigte die Stadt nicht mit Gewalt, sondern mit List. Er täuschte den Buren eine viel größere Zahl an Verteidigern und unbegrenzte Mengen vom Munition vor, indem er Strohpuppen auf Schutzwälle legte, geschnitzte Holzgewehre über Schießscharten hinausragen ließ und mit leeren Konservendosen Attrappen von Geschützen aufbaute. Die bewaffneten Truppen ließ er blitzschnell die Stellung wechseln, mal hier und mal dort Gewehre abfeuern, so dass die Buren glauben mussten, die Stadt strotze vor Verteidigern. Sie wagten nicht einzugreifen. Um die Soldaten für den Ernstfall ständig bereit zu haben, rekrutierte Baden-Powell aus den Jungen der Stadt eine Truppe für leichtere militärische Aufgaben, sie wurden als Sanitäter, als Meldegänger und für Spähtrupps eingesetzt.
Dabei stellte Baden-Powell, zu seiner Verblüffung fest, dass die Jungen durchaus fähig waren Verantwortung zu übernehmen, Gefahren zu bestehen und Strapazen zu ertragen – wenn man ihnen nur Vertrauen schenkte und ihnen freie Hand ließ für selbständige, improvisierte Entscheidungen!
Diese Erkenntnis war revolutionierend, damals, zur Zeit der Jahrhundertwende, als die Pädagogen den Jugendlichen überhaupt nichts zutrauten und glaubten, man müsse Jungen und Mädchen mit puritanischer Strenge jeden Handgriff vorschreiben. Dass heutzutage Lehrer und andere Erzieher die Jugendlichen als ernst zu nehmende Partner behandeln, denen man eine Menge zutrauen kann, ist nicht zu letzt Baden-Powell zu verdanken. Er war der erste, der diese bahnbrechende pädagogische Entwicklung ausgelöst hatte – auf Grund seiner Erfahrungen mit den Jungen von Mafeking.
Mit Hilfe dieser Jungen war es ihm damals auch gelungen, die Stadt Mafeking genau 217 Tage lang zu verteidigen, bis sie schließlich von einem Einsatzkommando britischer Kavallerie im Mai 1900 befreit wurde. Als Baden-Powell 1901 auf königlichen Befehl nach England zurückkehrte, um zum General befördert und mit dem Kreuz des Bath-Ordens ausgezeichnet zu werden – da schlug ihm schon bei seiner Ankunft eine Welle der Begeisterung entgegen. Fassungslos stellte er fest, dass er – ohne es gewollt zu haben – ein Nationalheld geworden war, ein Idol der Jugend! Denn ohne sein Wissen hatten englische Zeitungsreporter von der Belagerung Mafekings berichtet, Tag für Tag. Ganz England hatte den spannenden Kampf um Mafeking atemlos verfolgt. Besonders die Jungen waren begeistert von Baden-Powell.
Während er noch in Mafeking eingeschlossen gewesen war, hatten sie in England sein Buch „Aids for Scouting“ zum Jugendbuchbestseller ernannt! Das aber schien Baden-Powell sehr bedenklich zu sein eine Lektüre für den dienstlichen Gebrauch von Offizieren und Soldaten. Als Mann, der den Frieden liebte, wollte er nicht, dass ein derartiges Buch in die Hände der Jungen kam. Doch die Entwicklung ließ sich weder rückgängig machen noch aufhalten. Ein Verbot hätte nichts mehr genützt. Außerdem war Baden-Powell gegen Verbote, wenn sie nicht unbedingt notwendig waren. Was tun?
Es gab nur eine Möglichkeit: Baden-Powell beschloss ein zweites Scouting-Buch zu schreiben, eines für die Jugend, in dem er die revolutionierenden pädagogischen Erkenntnisse von Mafeking mit den Waldläufergeheimnissen seines abenteuerlichen Dschungellebens verarbeitete. Dieses Buch wollte er „Scouting for Boys“ nennen. Es sollte ein umfangreiches Werk werden, das er nur schreiben konnte wenn er viel Zeit hatte.
Doch so schnell ließ sich sein Plan nicht verwirklichen. Seine beruflichen Verpflichtungen als Offizier nahmen ihn voll in Anspruch. Er erhielt den Auftrag, die in Englands Diensten stehende berittene Schutzpolizei Südafrikas zu gründen und auszubilden.
Damals, in Südafrika las Baden-Powell ein soeben erst erschienenes Buch, von dem er zusätzliche Anregungen für seine später gegründete Pfadfinderbewegung empfing. Das Buch hieß „Kim“ und stammte aus der Feder des berühmten englischen Dichters Rudyard Kipling (Rudyard Kipling, 1865 – 1936, erhielt 1907 den Nobelpreis für Literatur, im selben Jahr, als Baden-Powell die Pfadfinderbewegung gründete.)
Baden-Powell und Kipling waren von Indien her gut befreundet. Kipling erzählte in diesem Buch die Geschichte eines Jungen namens Kim (Kimball OHara), Sohn eines Unteroffiziers, der einem in Indien stationierten irischen Regiment angehörte. Als die Eltern starben kam Kim zu einer armen Tante. Dort wuchs er zusammen mit Eingeborenenkindern auf. Er gewann früh an Selbständigkeit. Später reiste er mit einem tibetischen Wanderpriester durch ganz Nordindien. Dabei lernte er in der Einöde und Dschungel die Gefahren der Wildnis zu meistern. Im weiteren Verlauf der Geschichte stieß Kim auf den Juwelier Lurgan, der es sich zur Aufgabe machte, Kims Verstand mit verschiedenen Spielen zu schulen. Unter anderem zeigte er ihm ein Brett, auf dem wertvolle Steine verschiedener Größe und Farbe lagen. Dann deckte er die Steine zu und Kim musste sie aus dem Gedächtnis aufzählen. Durch ständiges spielerisches Training wurden die Beobachtungsgabe und das Gedächtnis von Kim so geschärft, dass er sich schließlich jede beliebige Menge von verschiedenen Steinen einprägen konnte.
Mit solcherlei Fähigkeiten erwies sich Kim später als nützlicher Kundschafter für das Regiment und fürs Vaterland. Dabei erlebte er viele Abenteuer, teils gefährlichster Art, die er jedoch alle trotz seiner jungen Jahre glücklich überstand, weil er gewohnt war, für sich selbst zu handeln und weil seine Beobachtungsgabe, seine Klugheit und Findigkeit durch Spiele geschult waren. Baden-Powell war von diesem Buch tief beeindruckt. Erstens fühlte er seine bei der Verteidigung von Mafeking gemachten Erfahrungen bestätigt, dass Jungen durchaus ihre Pflichten von Erwachsenen erfüllen konnten, wenn man ihnen das erforderliche Vertrauen schenkte – und zweitens erkannte er, dass sich nützliche Fähigkeiten am besten durchs Spiel schulen ließen. Er nahm sich vor, sinnvoll gestaltete Spiele als wichtige Erziehungsmethode in seinem geplanten Buch „Scouting for Boys“ zu empfehlen. Baden-Powell brannte darauf dieses Jugenbuch zu schreiben, doch noch war er damit beschäftigt, die neugegründete Schutzpolizei Südafrikas auszubilden. Wie immer leistete er ganze Arbeit, und schon bald waren die berittenen Polizisten eine weithin berühmte Elitetruppe. Sie trugen einen breit randigen Filzhut, Halstuch und Khaki Hemd – die spätere Kluft der Pfadfinder.
Als er die Truppe aufgebaut hatte, glaubte er Zeit zu haben, um endlich „Scouting for Boys“ schreiben zu können, doch da wurde er nach England berufen und 1903 zum Generalinspekteur der gesamten britischen Kavallerie ernannt, mit dem besonderen Befehl, diese berittene Truppe neu zu organisieren. Die Aufgabe hielt ihn völlig gefangen. Er war ständig auf Reisen, von Garnison zu Garnison, und wieder fehlte ihm die Muße, ein so umfangreich geplantes Werk wie „Scouting for Boys“ zu verfassen.
Erst als die Kavallerie seinen Vorstellungen von einer modern organisierten Waffengattung entsprach, konnte er sich wieder seinem liebsten Thema, der Jugenderziehung zuwenden. Bevor er zur Feder griff, um das Buch endlich zu schreiben, wollte er persönliche Erfahrungen sammeln. Zu diesem Zweck trommelte er im Jahre 1907 insgesamt 22 Jungen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammen, die Söhne von adligen Kavallerie Offizieren und von Pferdepflegern, von Millionären und einfachen Arbeitern.
Mit diesen zweiundzwanzig Jungen ruderte er vom Hafen der englischen Stadt Poole hinüber zu Brownsea Island, eine kleine, zur Grafschaft Dorset gehörende Insel. Dort schlug er seine Zelte auf. Die alte Fahne von Mafeking, nach sieben Jahren schon historisch geworden, hatte er vorher aus dem Militärmuseum geholt. Nun flatterte sie am Fahnenmast inmitten des Zeltplatzes.
Wenn man liest, was Baden-Powell über das Lager auf Brownsea Island später schrieb, stellte man fest, dass es sich in nichts von den heutigen Pfadfinderlagern unserer heutigen Zeit unterschied.
„Der Trupp der Jungen“ so berichtet Baden-Powell, „wurde aufgeteilt in Sippen zu fünf Mann. Der Älteste wurde Sippenführer. Diese Einteilung in kleine Gruppen war das Geheimnis unseres Erfolges. Jeden Sippenführer wurde volle Verantwortung für das Verhalten seiner Leute übertragen, und zwar für die ganze Zeit des Lagers. Die Sippe war eine Einheit für Ausbildung, Arbeit und Spiel. Jede Sippe lagerte an ihrem eigenen Platz. Die Jungen wurden bei ihrer Ehre verpflichtet, die angeordneten Dinge auch auszuführen. Verantwortlichkeit und gesunde Rivalität wurden auf diese Weise geweckt. Eine gute, grundlegende Ausbildung erfolgte jeden Tag für den ganzen Trupp, und so wurde der gesamte Trupp fortschreitend in den Dingen des Pfadfindertums geübt.“
Auf das Gehorsamsprinzip konnte und wollte er dabei nicht verzichten. Er legte Wert darauf, dass die Jungen freiwillig folgten, ohne Zwang und ohne Strafe, nur aufgrund seiner Überzeugungskraft, seines guten Beispiels und seiner Persönlichkeit. So sollte es auch später bei anderen Pfadfinderführern bleiben, auch wenn sie nicht den Nimbus des legendär gewordenen Generals haben konnten.
Die Berühmtheit, die Baden-Powell im Krieg und als Vertreter des Klassen bewussten Offizierstandes erworben hatte, war seiner friedlichen Idee einer klassenlosen Jugenderziehung förderlich. In ganz England sprach sich herum, dass der „Held von Mafeking“ ein Jugendlager veranstaltet hatte, in dem kein erzieherischer Zwang ausgeübt worden war. Nicht alle standen auf seiner Seite. Einige wenige waren gegen ihn, gewisse Snobs, denen es unfassbar schien, dass beispielsweise der Sohn des Ministers und der Sohn eines Pförtners zusammen auf einem Zeltlager waren und Würstchen aßen, die sie gemeinsam über demselben Feuer gegrillt hatten.
Ansonsten aber zeigten sich die meisten Engländer von Baden-Powells neuer Form der Jugenderziehung begeistert. Unter seinen vielen Anhängern war auch der Londoner Verleger Pearson, der eine Jugendzeitung mit dem Titel „The Scout“ (Der Pfadfinder) zu gründen versprach, wenn sich Baden-Powell verpflichtete, dafür Artikel zu schreiben. Der General sagte zu. Er hatte nun seine eigentliche Berufung erkannt und wollte von der kriegerischen Tätigkeit eines Offiziers nichts mehr wissen. Es gelang ihm auch König Eduard VII von dem Sinn der Pfadfinderei zu überzeugen. Und schließlich stimmte der König zu, dass Baden-Powell auf eigenen Wunsch pensioniert werde, um sich ganz seiner neuen Aufgabe widmen zu können.
Der General wurde in seinem fünfzigsten Lebensjahr Jugendführer! Er mietete einen ruhigen, mit dunklem Eichenholz getäfelten Raum in der Windmühle von Wimbeldon Common in London, wo er ungestört arbeiten konnte. Dort verwirklichte er seinen Plan, ein Pfadfinderbuch für die Jugend zu schreiben: „Scouting for Boys“. Es erschien als Serie, Kapitel für Kapitel, in der Zeitschrift „The Scout“. Es sollte später in allen Kultursprachen der Erde übersetzt und das größte pädagogische Werk unseres Jahrhunderts werden.
Wieso kam dieser Erfolg? Vor allen Dingen deshalb, weil „Scouting for Boys“ keine der damals üblichen schwer verständlichen Abhandlungen pädagogischer Theoretiker war, sondern das leicht lesbare Jugendbuch eines klugen Praktikers. Im Stil einer Plauderei am Lagerfeuer, behaglich und spannend erzählte Baden-Powell darin von seinen Abenteuern in Steppe und Dschungel, in Indien und Afrika. Er berichtete von Waldläuferkenntnissen, die ihn befähigt hatten, in der Wildnis zu überleben und gefährlichen Situationen zu entkommen. Seine Leser erfuhren von ihm, wie man Feuer ohne Streichhölzer macht, Entfernungen schätzt, Fährten von Tieren und Menschen deutet und verfolgt, wie man Knoten bindet, Behelfsbrücken baut, die Himmelsrichtungen ohne Kompass ermittelt und Erste Hilfe leistet. Er regte die Jungen an, diese Waldläuferkenntnisse praktisch anzuwenden, bei Wanderungen und Zeltlager, außerdem empfahl er seinen jungen Lesern, sich zu kleinen Gruppen zusammenzuschließen, ein Totemtier als Vorbild zu wählen wie die Indianer, ein Logbuch zu führen wie die Steuermänner der Schiffe, ein Versprechen abzulegen wie die Ritter beim Ritterschlag, ein eigenes Gesetz anzuerkennen, täglich eine gute Tat zu tun und immer hilfsbereit zu sein. Ja, ich weiß – jetzt werden die Kritiker des Pfadfindertums fragen: „Ist das alles? Was hat es denn für einen erzieherischen Sinn, einen Jugendlichen zu lehren wie er Feuer ohne Streichhölzer macht und wie er im Wald einer Fährte folgt? Das ist doch Indianerspielerei und keine wissenschaftliche Pädagogik! Und das Gerede von Hilfsbereitschaft, gut und schön, aber …“ Was sagt den Baden-Powell über pädagogisches Psychogramm und psychologische Persönlichkeitsentwicklung, über den motivationsgesteuerten Zuwachs an Selbstbewusstsein und Verantwortungsgefühl?
Nun, Baden-Powell schrieb in der Tat nicht viel über psychologische Persönlichkeitsentwicklung, Motivationssteuerung und ähnliche Schlagworte – aber er gab Tipps, wie die Jungen spielerisch, ohne es zu merken, diese Ziele erreichten. Die Hilfsbereitschaft beispielsweise, das hat er bald erkannt, ist nicht nur eine Wohltat für diejenigen, dem sie gilt – sie formt auch die Persönlichkeit desjenigen, der sie übt. Sie hat einen sehr praktischen pädagogischen Wert. Und was die Waldläufergeheimnisse anlangt, so haben sich bereits Universitätsprofessoren, Pädagogen und Psychologen damit beschäftigt, sie haben bedeutende Studien oder Doktorarbeiten darüber geschrieben und den tieferen Sinn in allen Einzelheiten herausgefunden: Wer beispielsweise als Jugendlicher ohne Kompass wandert und ständig auf alle natürlichen Anzeichen der Orientierung achten muss, um sich nicht zu verirren, der wird sich sicherlich später, als Erwachsener, in seinem beruflichen und privaten Leben gewohnheitsmäßig die richtige Linie seines menschlichen Verhaltens kontrollieren und nicht auf Abwege geraten. Wer als Jugendlicher – so argumentieren die Psychologen weiter – bei den Pfadfindern Entfernungen messen gelernt hat, um beispielsweise zu wissen, ob er mit seinen Kräften das Ziel einer Wanderung in einem Tag schafft oder etappenweise marschieren muss – der wird auch später das Ziel einer beruflichen Aufgabe mit den eigenen Fähigkeiten in Einklang bringen. Das Entfernungsmessen also fördert – psychologisch gesehen – die Selbstkritik, prägt das gesunde Selbstbewusstsein und verhindert gefährliche Selbstüberschätzung.
Doch ehe ich nun selbst beginne, Baden-Powells Pfadfinderidee theoretisch zu zerpflücken, kehren wir lieber zurück zu „Scouting for Boys“. Lesen wir, wie einfach Baden-Powell sich ausdrückt, wenn er über das Leben in der Natur schreibt: „Das Lager ist ein sehr erfreulicher Teil im Leben eines Pfadfinders. In Gottes freier Natur leben, zwischen den Hügeln und Bäumen, den Vögeln und Tieren, den Meeren und Flüssen – das ist mit der Natur leben, sein eigenes kleines Zelt haben, selbst kochen und entdecken. Das alles gibt Gesundheit und Glück, wie man es niemals zwischen Backsteinen und dem Rauch der Stadt findet“ Ein anderes Zitat von Baden-Powell: „Auch eine Wanderung, bei der man weit herumkommt, jeden Tag neue Orte entdeckt, ist ein herrliches Abenteuer. Sie stärkt und härtet dich ab, so dass dir Wind und Regen, Hitze und Kälte nichts ausmachen. Du nimmst alles wies kommt, und fühlst dabei das Gefühl von Fitness, das dich befähigt, jeder Schwierigkeit mit einem Lächeln ins Gesicht zu sehen, wohl wissend, dass du am Ende siegen wirst.“ An anderer Stelle schreibt er: „Die Pfadfinderei ist ein vortreffliches Spiel, wenn wir unsere ganze Kraft hineinlegen und es richtig und mit echter Begeisterung anpacken. Wenn wir es so spielen, so werden wir, genau wie bei anderen Spielen, merken, dass wir dabei Kraft gewinnen an Körper, Geist und Seele.“
Über die Pfadfindergesetze äußerte sich Baden-Powell: „Es hat nicht den geringsten Wert die Pfadfindergesetze jemanden einzutrichtern oder als Befehle auszugeben. Jeder braucht seine eigene Auslegung der Gesetze und das Verlangen, sie zu befolgen.“ Für den Sippenführer schrieb Baden-Powell unter anderem: „Wenn der Pfadfinder verstehen gelernt hat, was seine Ehre ist, kannst du als Sippenführer ihm voll vertrauen, dass er seine Sache gut macht. Übertrage ihm eine Aufgabe, ganz gleich, ob für kurze Zeit oder dauernd, und erwarte von ihm, dass er seine Sache nach bestem Wissen erledigt. Schnüffle nicht, um zu sehen wie er sie macht. Lass sie ihn auf seine eigene Art durchführen, lass ihn, wenn nötig, dabei stöhnen, aber in jedem Fall lass ihn allein und vertraue ihm, dass er sein Bestes tun wird.“ Derlei Sätze, damals in „The Scout“ veröffentlicht, wirkten wie Trompetenstöße in der verstaubten Pädagogik der Jahrhundertwende. Lehrer und Erzieher reagierten zum Teil verstört, zum Teil mit interessierter Aufmerksamkeit und Zustimmung. Die Jungen aber schlossen sich mit Begeisterung der Pfadfinderbewegung an.
Überall in England gründeten sich kleine Gruppen mit selbst gewählten Sippenführern, sie spielten und arbeiteten nach den Empfehlungen der monatlich erscheinenden Zeitschriftenserie von Baden-Powell, und sie überredeten Erwachsene, die Oberleitung von mehreren Sippen zu übernehmen. Von selbst ergab sich für diese Erwachsene der Name „Scoutmaster“. Im Jahre 1909 unternahm Baden-Powell eine Urlaubsreise nach Südamerika. In Chile wurde er zu seinem Erstaunen von Pfadfindern empfangen, deren Existenz selbst ihm unbekannt war, von Jungen in Khakihemden mit Halstuch, breitrandigen Hut und Lilienemblem. Sie waren entsprechend seinen Empfehlungen organisiert und handelten danach. Auf seine verdutzten Fragen erklärten sie ihm, dass sie sich die Zeitschrift „The Scout“ über den Ozean hatten schicken lassen. Baden-Powell nahm ihnen offiziell das Pfadfinderversprechen ab und erklärte ihre Gruppe zur ersten ausländischen Pfadfinderorganisation.
Der erste Pfadfinder – Auslandsbesuch fiel ebenfalls ins Jahr 1909, als zwei englischen Sippen durch Deutschland wanderten und überall auf junge Menschen stießen, die von der Pfadfinderidee begeistert waren und eigene Sippen gründen wollten. Damals erkannte Baden-Powell, daß er mit seiner Jugendbewegung voll ins schwarze getroffen hatte und dass die Möglichkeit bestand das Pfadfindertum über die ganze Welt zu verbreiten. Ihm schwebte eine große Bruderschaft vor, ähnlich der Bruderschaft verbündeter Ritter des Mittelalters. Eine Bruderschaft für friedliche Zwecke jedoch, ohne Trennung durch Gesellschaftsklassen, Rasse, Nationalität oder Religionsgemeinschaft. Die Ritterlichkeit war für Baden-Powell eine besonders wertvolle Charaktereigenschaft, und deshalb wurde er nicht müde, in persönlichen Gesprächen und in seinen Schriften die Ritter als Vorbild hinzustellen.
„Die alten Ritter“, so schrieb er unter anderem, waren sehr religiös und immer darauf bedacht, am Gottesdienst teilzunehmen, besonders vor dem Kampf oder vor irgendeiner schwierigen Aufgabe. Sie verehrten Gott nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Natur und in seinen Geschöpfen, in den Tieren und Pflanzen. – So soll es auch der Pfadfinder halten: Er soll die Wunder der Natur lieben und darin Gott erblicken. Den Gott seiner Religionsgemeinschaft. Keiner taugt viel, der nicht an Gott glaubt. Jeder Pfadfinder soll daher einer Religionsgemeinschaft angehören.
Ritterlichkeit und Treue zu Gott – diese beiden Tugenden fand Baden-Powell in einer legendären Gestalt vereint: Im Ritter St. Georg, den er 1909 offiziell zum Schutzpatron der Pfadfinder erklärte, „weil er unter den Heiligen der einzige Ritter war“. Im selben Jahr gab es noch eine ganze Reihe pfadfinderischer Aktivitäten. Baden-Powell hielt zwei Lager und ein Pfadfindertreffen im Londoner Kristallpalast mit 11.000 Teilnehmern ab. Dort sah er unter den vielen Boy Scouts plötzlich eine Schar von Mädchen, die ebenfalls die Pfadfindertracht trugen. Sie kamen auf ihn zu und sagten: „Wir sind Girl Scouts, Mister Baden-Powell.“ Der General war begeistert, dass sich seiner ursprünglich nur für Jungen gedachten Organisation nun auch Mädchen anschließen wollten, und er ging sofort daran, Gruppen von Pfadfinderinnen zu gründen.
Die heute teilweise schon übliche „Koedukation“, also der Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen, war damals noch undenkbar. Deshalb entstand eine von den Boy – Scouts streng getrennte Organisation weiblicher Pfadfinder, die von Baden-Powell „Girl Guide“ genannt wurden (guide = Führer im Sinne von ortskundigen Begleitern). Einige Mädchengruppen aber behielten den Namen „Girl Scouts“ trotzdem bei. Deshalb hieß die später gegründete Pfadfinderinnen Weltorganisation schließlich „World Association for Girls Guides and Girl Scouts“, kurz WAGGGS.
Baden-Powell entschloss sich damals, sein Buch „Scouting for Boys“ für die Interessen der Mädchen umzuschreiben. Allerdings konnte er sich als Mann nicht so recht auf die Pfadfinderinnen einstellen, und die Girl Guides hingen am Anfang ohne zentrale Führung etwas in der Luft.
Das änderte sich, als Baden-Powell im Jahre 1912 auf einer großen Weltreise auf dem Schiff die damals 22jährige Olave St. Claire kennenlernte und kurz darauf heiratete. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Olave begeisterte sich für die Pfadfinderidee ihres Mannes und übernahm im Jahre 1916 die Führung der englischen Girl Guides.
Im selben Jahr kam Baden-Powell zu der Überzeugung, dass es sinnvoll sei, die Jugendlichen in zwei Altersgruppen zu teilen, in die Wölflinge (bis zum elften Lebensjahr) und die eigentlichen Pfadfinder, die mindestens zwölf Jahre alt sein sollten. Beide Gruppen sollten eine getrennte, ihrem Alter gemäße Ausbildung erhalten.
Seit 1919 gibt es auch eine dritte Altersgruppe, die Rover (ab dem 19. Lebensjahr).
1919 bekamen die Pfadfinder von einem schottischen Landedelmann den Gilwellpark bei London als Ausbildungszentrum für Scoutmaster geschenkt.
Die ersten Pfadfinderführer, die dort einen Lehrgang erfolgreich abschlossen, erhielten eine sonderbare Auszeichnung, zwei Holzstückchen, die sie an einer Lederschnur um den Hals tragen durften. Sie stammten aus der, aus vielen Holzstückchen bestehenden, Halskette, die der Zulu-Häuptling Dinzulu dem General seinerzeit in Afrika geschenkt hatte. Die Originalhölzchen der Häuptlingskette waren natürlich schnell verbraucht, aber es bürgerte sich ein, dass Pfadfinderführer in jedem Land bis in unsere Tage nachgemachte Hölzchen bekommen, wenn sie einen international anerkannten Gruppenleiterlehrgang absolvierten. Diese Lehrgänge werden nach dem Holzabzeichen auch Woodbadge – Ausbildung genannt (wood = Holz, badge = Abzeichen).
Im Jahre 1920 veranstaltete Baden-Powell das erste internationale Pfadfindertreffen (Jamboree) in London wo in der Olympia Hall 8.000 Pfadfinder aus 27 Ländern zusammenkamen. Bei dieser Gelegenheit wurde er zum ersten und einzigen mal als Chief Scout of the World (oberster Weltpfadfinderführer) ausgerufen. 1922 entstanden das zwölfköpfige Weltkomitee, die Weltkonferenz und das internationale Büro. Zu diesem Zeitpunkt zählte die Pfadfinderbewegung über eine Millionen Mitglieder in 32 Ländern. Die Pfadfinderinnen hatten inzwischen unter der Leitung von Olave Baden-Powell große Fortschritte gemacht. Sie erhielten in den Jahren 1922 und 1927 ständig internationale Ausbildungszentren in Foxlease und Waddow Hall, entsprechend dem Gilwellpark der Pfadfinder.
Der Name des Parks, Gilwell, wurde 1929 auch Bestandteil des Namens von Baden-Powell, als ihn der König zum Lord adelte. Fortan hieß er Lord Baden-Powell of Gilwell. Damals war er 72 Jahre alt.
Im Jahr darauf wurde Lady Olave Baden-Powell zur Chief Guide of World (oberste Weltpfadfinderführerin) ernannt (die sie bis zu ihrem Tode am 26.Juni 1977 blieb). Sein letzter großer Auftritt war beim Jamboree in Holland 1937, wo er sich offiziell verabschiedete: „Es ist Zeit für mich“, sagte er, „dass ich euch good-bye sage. Ihr wisst, dass viele von uns sich auf dieser Welt nie wieder treffen werden. Ich bin in meinem einundachtzigsten Lebensjahr und nähere mich dem Lebensende. Die meisten von euch aber sind am Beginn des Lebens …“. Danach zog er sich zurück in sein Haus, das er nahe der Wildnis gebaut hatte, unweit von Nyrei, einer kleinen Stadt im Ostafrikanischen Kenia. Dort wurde er gelegentlich von weißen Jägern besucht, die seinen Rat schätzten, von Eingeborenenhäuptlingen, die ihn verehrten, und von Pfadfindern und Pfadfinderinnen, die aus der ganzen Welt kamen. Als er fühlte, dass er sterben werde, setzte er sich auf die Veranda seines Hauses, wo ihm der Wind den Geruch der afrikanischen Steppe zuwehte, um seinen letzten Brief zu schreiben, seinen Abschiedsbrief an die Boy Scouts und Girl Guides dieser Welt:
Liebe Pfadfinder! In dem Theaterstück „Peter Pan“, das Ihr vielleicht kennt, ist der Piratenhäuptling stets dabei, seine Totenrede abzufassen, aus Furcht, er könne, wenn seine Todesstunde käme, dazu keine Zeit mehr finden. Mir geht es ganz ähnlich. Ich liege zwar noch nicht im Sterben, aber der Tag ist nicht mehr fern. Darum möchte ich noch ein Abschiedswort an euch richten. Denkt daran, dass es meine letzte Botschaft an euch ist, und beherzigt sie wohl. Mein Leben war glücklich, und ich möchte nur wünschen, dass jeder von euch ebenso glücklich lebt. Ich glaube, Gott hat uns in die Welt gestellt, um darin glücklich zu sein und uns des Lebens zu freuen. Das Glück ist nicht die Folge von Reichtum und Erfolg im Beruf und noch weniger von Nachsicht gegen sich selbst. Ein wichtiger Schritt zu Glück besteht darin, dass Ihr euch nützlich erweist und des Lebens froh werdet, wenn Ihr einmal Männer sein werdet. Das Studium der Natur wird euch all die Schönheiten und Wunder zeigen, mit denen Gott die Welt ausgestattet hat, euch zur Freude. Seit zufrieden mit dem, was Euch gegeben ist, und macht davon den bestmöglichen Gebrauch, trachtet danach, jeder Sache eine gute Seite abzugewinnen. Das eigentliche Glück aber findet Ihr darin, dass Ihr andere glücklich macht. Versucht, die Welt ein bisschen besser zurückzulassen, als Ihr sie vorgefunden habt. Wenn dann Euer Leben zu Ende geht, mögt Ihr ruhig sterben im Bewusstsein, Euere Zeit nicht vergeudet, sondern immer Euer Bestes getan zu haben. Seid in diesem Sinn allzeit bereit, um glücklich zu leben und glücklich zu sterben. – Haltet euch immer an das Pfadfinderversprechen, auch dann, wenn ihr keine Knaben mehr seid. Euer Freund
Baden-Powell of Gilwell
Kurze Zeit später, am 08.Januar 1941, schloss er für immer die Augen. Jungen und Mädchen standen in ihrer Pfadfindertracht auf dem Friedhof von Nyrei, sechs Scoutmaster trugen den Sarg. Britische Offiziere salutierten. Dem letzten Wunsch des Verstorbenen entsprechend, wurden keine großen Reden gehalten, nur ein Trompeter blies den Pfadfinderpfiff. Auf Baden-Powells Grabstein befindet sich ein Kreis mit einem Punkt darin. Es ist eines der internationalen nur Pfadfindern bekannten Wegzeichen, mit denen sich die Mitglieder der Bruderschaft über alle Sprachbarrieren hinweg verschlüsselte Nachrichten geben können. Diese Nachricht Baden-Powells heißt: Ich habe meinen Auftrag erfüllt und bin nach Hause gegangen.
entnommen von Scoutnet.ch / Autor dieser Zusammenfassung ist Daniel Saxer